Pro REGENWALD

Neues Hintergrund Projekte Mitmachen Über uns Mithelfen/Spenden
Please leave these fields blank (spam trap):

Brasilien: Korrupte Agrarlobby bringt Präsident Temer in NöteStichwörter: Brasilien Politik Korruption

Vor nicht allzulanger Zeit musst man berichten, wie die brasilianische Regierung um Präsident Michel Temer Sozial-, Umwelt- und Indigenenrechte schleift, um der Agrar- und Bergbauindustrie leichter Zugang zu Land und Rohstoffen zu verschaffen (Brasiliens Regierung putscht jetzt gegen Natur und eigene Bevölkerung).

Und wie bekommt es Präsident Temer gedankt, der seine ganze Arbeitskraft und Integrität dafür einsetzt, nicht nur seine Vorgängerin aus dem Amt zu putschen, sondern auch unliebsame Hindernisse wie die genannten Rechte zum Wohle der Agrarindustrie aus dem Weg zu räumen? Die korrupten Agrarlobbyisten selbst wollen ihn inzwischen mit in den Abgrund aus Bestechung und illegalen Machenschaften reißen.

Obwohl anscheinend die gesamte wirtschaftliche und politische Elite des Landes in Korruptionsskandale und -ermittlungen verwickelt zu sein scheint, gelang es Temer bisher recht gut, sich als unbeteiligt darzustellen.

Doch nun ist es ausgerechnet Joesley Batista, einer der Eigentümer des weltgrößten Fleischkonzerns JBS, der Präsident Temer das Amt kosten könnte. Gegen ihn und JBS wird ermittelt, weil im März herauskam, dass sie staatliche Kontrolleure bestochen haben sollen, damit diese nicht so genau hinschauen, wenn JBS verdorbenes Fleisch verkauft. Nebenbei hat JBS auch noch über 50.000 Rinder auf illegal gerodeten Waldflächen Amazoniens gehalten (Brazil agribusiness company accuses ally Temer in secret bribe taping ) und über Jahre hinweg Parteien illegal finanziert.

Die Aussicht, wie der Chef des Baukonzerns Odebrecht, wegen Korruption für 19 Jahre hinter Gittern zu landen scheint Joesley Batista nicht gefallen zu haben, denn er diente sich der ermittelnden Staatsanwaltschaft als Kronzeuge an. Und um seine ausgehandelte Straffreiheit abzusichern, ließ er sich von der Staatsanwaltschaft verkabeln und zeichnete seine Gespräche mit Wirtschaftsbossen und Politikern auf.

Dumm für Präsident Temer natürlich, dass er während des laufenden Aufnahmegerätes zustimmt, dem inzwischen inhaftierten ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha ein Schweigegeld zu zahlen. Und während Joesley Batista seine Straffreiheit mittlerweile in New York genießt, hat Brasilien einen Präsidenten Temer im Amt, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen Korruption, der Bildung einer kriminellen Vereinigung und Behinderung der Justiz ermittelt ("Operation Autowäsche" wird immer schmutziger").

Nach anfänglichem Herausreden hat er nun zwar den Einspruch gegen die Ermittlungen zurückgezogen (Präsident Temer stimmt Ermittlungen zu), doch zurücktreten will er (noch) nicht. Vielmehr besinnt er sich scheinbar der "guten, alten Zeit" der Militärdiktatur und lässt nun selbst Militär in die Hauptstadt einrücken - natürlich um die Demokratie zu schützen (Brasilia außer Kontrolle).

Die letzte Intrige des Vampirs
Korrupt wie kaum ein anderes Land: Brasiliens Präsident Temer ist in Bestechungsskandale verwickelt. Im Volk wächst die Wut und das Vertrauen in die Demokratie sinkt.

von Thomas Fischermann, Rio de Janeiro, 21. Mai 2017

Gut zehn Minuten lang trat der 78-jährige Michel Temer am gestrigen Samstag vor die Fernsehkameras und versuchte angestrengt, das Unleugbare zu leugnen. Nein, er habe mit der Serie von Bestechungsskandalen der vergangenen Monate und Jahre nichts zu tun. Er habe auch keine Antikorruptionsermittlungen behindert. Auf gar keinen Fall habe er Schweigegeld an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha schicken lassen – der früher mal ein enger Verbündeter Temers war, seit Oktober aber wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche im Gefängnis sitzt.

Doch vergangene Woche wurden Audiomitschnitte von Temer bekannt, die offenbar im März heimlich aufgezeichnet wurden und in denen die Sache ganz anders erscheint. Da unterhält sich der Präsident mit einem Chef des größten Fleischkonzerns des Landes, JBS, und der Unternehmer erzählt Temer von lauter illegalen Aktivitäten. Er besteche zum Beispiel Richter und er zahle ein großzügiges monatliches Schweigegeld an den inhaftierten Cunha. Der Präsident sagt dazu nichts, tut so, als sei alles ganz normal, und er feuert den Milliardär bisweilen sogar an. Am Samstag erklärte Temer, die Aufzeichnungen seien verändert worden, aber die Polizei streitet das ab. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat ein Verfahren gegen den Präsidenten eröffnet.

Der Abhörskandal aus Brasília passt jedenfalls gut ins Bild. Seit mehreren Tagen schon legt eine Serie von Kronzeugengeständnissen, abgehörten Telefongesprächen und heimlich fotografierten Schmiergeldübergaben nahe, dass Temer und seine Regierung nicht nur tief in mehrere Bestechungsskandale verwickelt sind. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass sie gemeinsam mit Verbündeten im Parlament und sogar beim Obersten Gerichtshof die Aufklärung solcher Verbrechen behindern wollen. Temers politische Gegner behaupten das schon lange, doch nun erscheint die Beweislast überwältigend. Sogar der einst Temer-treue Medienkonzern Globo hat den Rücktritt des Präsidenten fordert. Auf den Straßen mehrerer Städte brachen in den vergangenen Tagen Proteste aus.

Das Ironische an der Geschichte: Schlachtrufe über den "Kampf gegen die Korruption" brachten Michel Temer vor einem guten Jahr an die Macht. Ein ungewöhnlich engagiertes Team von Staatsanwälten und ein Spezialrichter für Finanzangelegenheiten namens Sergio Moro hatten damals Monat für Monat Bestechungsskandale aufgedeckt: Bei vielen Bau- und Förderprojekten rings um den staatlichen Ölkonzern Petrobras waren offenbar systematisch drei Prozent der Vertragssummen abgezweigt worden. Sie flossen den Politikern vieler Parteien zu, von links bis rechts.

Millionen Brasilianer demonstrierten daraufhin gegen Korruption in der Politik, und sie machten hauptsächlich die damalige Präsidentin Dilma Rousseff verantwortlich. Sie muss sicher von dem Ganzen gewusst haben, allerdings wurden gegen sie bis heute keine Vorwürfe irgendeiner persönlichen Bereicherung erhoben. Auch in dem damaligen Amtsenthebungsverfahren ging es nicht um Bestechung, sondern um technische Angelegenheiten der Haushaltsführung, was ein offensichtlicher Vorwand war. Rousseffs damaliger Vize Michel Temer rückte nach, ein in der Bevölkerung wenig bekannter Politiker, ein Experte für Hinterzimmerdeals, der wegen seiner steifen Manieren und seiner gothisch inspirierten Erscheinungsweise bisweilen "der Vampir" genannt wird.

Temer umgibt sich mit Großunternehmern

Der zum Präsidenten aufgestiegene Vize versuchte sich in einem politischen Kurswechsel. Er betrieb etwa die gegenteilige Politik der sozial orientierten Rousseff, die deshalb seither von einem "Staatsstreich" spricht: Temer umgab sich mit Großunternehmern und ihren Verbandschefs, stieß harsche Sparreformen an, kappte Arbeiterrechte und Minderheitenschutz. Er lockerte Umweltregeln und schwächte beispielsweise das Amt für Indianerangelegenheiten, was den Großgrundbesitzern des Landes gut gefiel. Schon früh nach dem Start der neuen Regierung kamen Belege ans Licht, Minister im Kabinett Temer könnten offenbar versuchen, Antikorruptionsermittlungen abzuwürgen. Mehrere Minister nahmen ihren Hut.

Doch ob es nun Versuche zur Behinderung der Fahnder gab oder nicht – Erfolg hatten sie offensichtlich nicht. Der Richter Moro und die Staatsanwälte sind inzwischen viel weiter als im vergangenen Jahr. Sie haben unter anderem den größten Baukonzern des Landes Odebrecht der Bestechung überführt. Dessen früherer Chef sitzt im Gefängnis, hat umfangreich gestanden und viele Politiker schwer belastet. Das neueste Großgeständnis kommt nun vom weltweiten größten Fleischproduzenten JBS, der umgerechnet 160 Millionen Euro an 1.829 Politiker aus 28 Parteien ausgezahlt haben will. Auch Rousseff und ihr Amtsvorgänger Luiz Inácio Lula da Silva sollen von JBS dreistellige Summen auf Auslandskonten erhalten haben – was sie bestreiten. Die Ermittler brachten ferner zutage, dass beim Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff im vergangenen Jahr erhebliche Schmiergelder an Abgeordnete geflossen sind – und zwar sowohl zu ihrer Unterstützung als auch für ihren Rauswurf.

Diese Anschuldigungen werden noch zu prüfen sein, aber so oder so verdichtet sich das Bild, dass quasi alle Parteien über viele Jahre Milliardensummen von Brasiliens Großunternehmen erhalten haben.

Die Demokratie leidet unter Vertrauensverlust

Wie soll das also weitergehen? Brasilien, das zu Beginn des Jahrtausends einen beeindruckenden Wirtschaftsaufstieg hinlegte, das sozialpolitische Vorbildreformen anstieß und zu einer politischen Großmacht heranwuchs, steckt seit mehr als drei Jahren in der Dauerkrise. Eine tiefe Rezession hat die Wirtschaft ergriffen, die Arbeitslosigkeit ist steil angestiegen, öffentliche Bedienstete werden mancherorts nicht mehr bezahlt, Vorzeigestädte wie Rio de Janeiro fallen Bandenkriegen zum Opfer. Viele Wirtschaftsexperten hatten gehofft, Temer könne diese Probleme in den Griff bekommen. Nach dem Motto: Dieses Regime ist zwar nicht hundertprozentig legitim und es wird in Umfragen bloß von 10 Prozent der Bevölkerung unterstützt, aber es versteht etwas von Wirtschaft und Recht und Ordnung und Reformen.

Derzeit sieht es aber danach aus, als könnten viele Brasilianer in diesen Tagen das letzte bisschen Vertrauen in ihr demokratisches System verlieren. Sie haben es noch gar nicht so lange, die letzte Militärdiktatur ging Mitte der achtziger Jahre zu Ende. Politische Stellungnahmen unter Brasilianern haben in diesen Tagen überwiegend zwei Versionen: "Alle Politiker sind korrupt!" oder: "Die Politiker des anderen politischen Lagers sind korrupt und sie beschuldigen heuchlerisch die Leute, die ich selber unterstütze!"

Das sind Argumentationsmuster wie beim Fußball, wo ja auch immer nur die anderen die Fouls begehen. Doch es ist eben kein Fußball, es ist sehr ernst. Wegen Demokratieermattung und Frust über Korruption sind in etlichen Ländern Lateinamerikas, auch in Brasilien, immer wieder faschistische Regimes aufgestiegen. Wenn heute in Brasilien Neuwahlen wären, wäre einer der stärksten Kandidaten für das Präsidentenamt der Abgeordnete Jair Bolsonaro, der sich offen für eine Rückkehr der Generäle ausspricht und regelmäßig alte Folterknechte lobt. Der andere, noch stärkere Kandidat wäre der Ex-Präsident Lula da Silva, der freilich selber eine Serie von Korruptionsermittlungen am Hals hat und genauso gut im Gefängnis landen könnte wie erneut im Präsidentenpalast.

Brasiliens Parteienlandschaft ist zersplittert

In dieser frustrierten, aufgebrachten Stimmung ist kaum vorstellbar, wie jemand in Brasília das Übel an seiner Wurzel packt. Brasilianische Politik- und Verfassungsexperten fordern seit vielen Jahren, dass in Brasilien eine große Reform des politischen Systems durchgeführt werden muss. Das Problem der Korruption hat nämlich viele Gründe, persönliche Raffgier allen voran – aber handfeste Konstruktionsfehler der brasilianischen Demokratie gehören auch dazu. Die Parteienlandschaft ist so zersplittert, dass derzeit 27 Parteien im Unterhaus vertreten sind. Jede handlungsfähige Koalition muss aus vielen solcher Splittergruppen zusammengesetzt werden und das ist offenbar nur möglich, wenn Geld ins Spiel kommt.

Brasilianische Wahlkämpfe sind sehr teuer, und so haben sich ungeschriebene Regeln etabliert. Wer eine Koalition bilden will, muss den kleineren Koalitionspartnern die Wahlkampfkosten erstatten. Doch die legalen Wege der Parteienfinanzierung sind sehr beschränkt, dieses Geld reicht niemals aus. Da bleibt selbst Politikern, die für sich persönlich keinen Centavo abzweigen wollen, nur eine Lösung: eine schwarze Kasse, irgendwo im In- oder Ausland, gespeist von Öl- und Bau- und Fleischunternehmern.

Mit anderen Worten: Wenn Brasilien seine Pechsträhne aus politischen Skandalen und wirtschaftlichen Panikreaktionen beenden will, ist das gar nicht so leicht, wie es vielen Demonstranten auf den brasilianischen Straßen gerade erscheint. Die lauten "Temer weg!"-Rufe dürften bald erfüllt werden auf die eine oder andere Weise, durch einen Rücktritt oder ein Gericht. Das entstehende Machtvakuum ist aber keine Lösung.

Vorgezogene Neuwahlen sind unwahrscheinlich

Die Korruptionsermittler um den Richter Sergio Moro, die von vielen Brasilianern geradezu vergöttert werden, haben selber auch keine Lösung für das Land parat: Wenn sie so weitermachen, sitzt zwar irgendwann die halbe Hauptstadt Brasília im Gefängnis, aber politische Reformen sind kein Stück näher.

Für vorgezogene Neuwahlen in den kommenden Monaten müsste der Kongress erst eine Verfassungserweiterung beschließen – was bisher als unwahrscheinlich gilt, denn viele Abgeordnete klammern sich an ihre Posten, und sie wissen, dass sie gerade beim Wahlvolk unten durch sind. Solche Wahlen könnten Faschisten wie Jair Bolsonaro helfen. Oder den Ex-Präsidenten Lula da Silva zurückbringen – ein politisches Urgestein und eine polarisierende Figur, der etwa 50 Prozent der Bevölkerung als "ein ebenso großer Bandit wie Temer" gilt.
Quelle: zeit.de

Kommentare

Please leave these fields blank (spam trap):

Kein HTML erlaubt.
Bitte verschont uns hier vor Werbeeinträgen, inhaltsfernem, beleidigendem oder anderweitig nicht tragbarem Geschreibe. Wir löschen solche Einträge, wollen aber nicht jeden Tag kontrollieren müssen.


Kommentar kann bis zu 30 Minuten nach dem Abschicken geändert werden.

Please leave these fields blank (spam trap):